Siegfried Streufert erzählt 70 Zuhörern beim Heimatbund aus seinem Leben und
über den Tod seines Vaters im KZ
von Hans-Jürgen Schekahn
SCHWENTINENTAL. Ja, er habe in Raisdorf seine Wurzeln und er kehre dorthin gerne zurück, sagt Prof. Siegfried Streufert, auch wenn er seit 60 Jahren in den USA lebe. Auch wenn die Nazis seinen Vater ermorden ließen. Vor dem Heimatbund erzählte Streufert aus seinem bemerkenswerten Leben. Sein Vater August Streufert war bis 1932 SPD-Reichstagsabgeordneter. Er darf nach der Machtergreifung Hitlers für kein deutsches Untemehmen und keine deutsche Behörde mehr tätig sein. Es verschlägt ihn 1934 nach Raisdorf, wo er im Auftrag der holländischen Firma van Houten mit Kakao und Puddingpulver handelt.
Streufert Junior, Jahrgang 1934, wuchs im kleinen Raisdorf mit gerade einmal 800 Einwohnern auf. Die Erlebnisse seiner Kindheit könne er bis heute nicht vergessen, sagt er den 70 Zuhörern im Hotel Rosenheim. 1944 holen die Nazis seinen Vater ab, der wenig später im KZ Neuengamme ermordet wird. In der Aktion Gitter ließ die NS-Regierung nach dem Anschlag auf Hitler frühere Reichstagsabgeordnete töten. Er erlebt Angriffe von Tieffliegern hautnah mit. Gegen Kriegsende erlebt Siegfried Streufert mit, wie ein Zug in der Nähe des Hauses der Familie von amerikanischen Tieffliegern angegriffen wird. Menschen sterben und sind verletzt. "Ich sehe noch, wie meine Mutter die guten Tischdecken zerreißt, um die Verwundeten zu versorgen." Er erlebt hautnah, wie ein Flieger auf ihn schießt und sogar den Baum trifft, hinter dem er sich versteckt hat. Er erlebt, wie nach einem Bombenangriff ein kleines Mädchen in ein brennendes Bauernhaus am Raisdorfer Dorfplatz zurückläuft, um seine Puppe zu holen. Sie stirbt in den Flammen.
Siegfried Streuferts Bilanz seiner ersten Lebensjahre: "Nicht gerade wundervoll." Trotzdem besucht er seine alte Heimat gern. "Wir haben hier gute Bekannte, und mein bester Freund lebt hier." Bei einem seiner früheren Besuche sagte er: "Es gibt überall gute und schlechte Menschen." Dankbar ist er dafür, dass die Gemeinde Schwentinental die Erinnerungen an seinen Vater wach hält, der immerhin über zehn Jahre in Raisdorf gelebt hat. Der frühere Bürgermeister Helmut Ohl zeichnete in einem Buch das Leben von August Streufert nach. 2010 wurde ein Grabstein für ihn und seine Frau Ella auf dem Friedhof enthüllt. Eine Straße ist nach August Streufert benannt. Der Schrecken der Nazi-Zeit und des Krieges bestimmen Siegfried Streuferts Lebensweg. Er stellt sich angesichts der Ereignisse vielen Fragen. Wie kann man Vorurteile gegenüber anderen abbauen? Wie kann man Menschen zufriedener machen, damit sie nicht andere hassen? Fragen, die er mit in die USA nimmt, wo er seit 1956 lebt und als Wissenschaftler arbeitet.
Sein anfänglicher Glaube daran, Amerika sei ein durchweg freies und gutes Land, ist bald erschüttert. Im Alltag erlebt er, wie über eine schwarze Behördenangestellte abwertend geredet wird, nur weil sie eine andere Hautfarbe hat. Streufert spürt die religiöse Intoleranz im Alltag vieler Amerikaner. Er studiert in seiner neuen Heimat Soziologie, Psychologie und Sozialwissenschaften. Seinen Doktor macht er an der legendären Princeton University. Er sucht wissenschaftliche Antworten auf die Fragen, die ihm im Nazi-Deutschland begegneten. Komplexität ist der zentralb Begriff seiner Forschung. Je mehr Facetten ein Mensch in seinem Gegenüber wahrnimmt und über sie nachdenkt, desto besser kennt er ihn. "Die erfolgreichsten Menschen sind nicht diejenigen, die nur intelligent sind, sondem die, die auch die Komplexität der Dinge abwägen und in ihre Entscheidungen einbeziehen."
Heute lebt Streufert mit seiner Frau Glenda auf Hawai. Dort fühle und liebe er den Geist des "Aloha". Das Wort, das als Willkommensgruß bekannt ist, symbolisiert die Gutmütigkeit und Gastfreundlichkeit, die auf der Insel geschätzt werden. Vielleicht ist dieses Aloha die eigentliche Antwort auf die vielen Fragen nach der Menschlichkeit, die sich Streufert als Wissenschaftler stellt.
Foto: Sie kennen sich seit Kindertagen: Siegfried Streufert schließt in Schwentinental Marie Luise Filitz (links) und ihre Schwester Heide Patra in die Arme.
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